Rapper, Autor, Speaker, Kurator, Philosoph, Historiker,
DJ, Musiker, Künstler, Unternehmer mit Wurzeln aus Haiti, lebt in Zürich.
Ich sitze langbeinig auf einer Parkbank, direkt am Konstanzer Ufer und schaue mit
geschlossenen Augen auf die Weiten des Bodensees. Wasser hat wirklich etwas
Beruhigendes, denke ich mir glücklich, doch ernsten Blickes. Erst als mir klar wird, dass so
etwas nur ältere Herren tun, schleicht sich ein Lächeln auf meine Mine.
Ich gewöhne mich allmählich an das „alt-sein“ - kein Besprühen von Zügen, kein Fortlaufen
vor Polizei oder sonst irgendetwas mehr. Mittlerweile sitze ich gern einfach so irgendwo
völlig Auftragslos und schaue mir selbst beim Leben zu.
... „Wir sehen dich als Protagonist und schätzen deinen kritischen Blick für unser Kunst
Projekt“. Ich versuche mich auf die engagierte Stimme an meinem Ohr zu konzentrieren,
anstatt das Idiom des Gekichers der jungen Frauen zu erraten, die viel zu schnell an mir
vorbeischlendern. Dustin macht mit Stefan Kunst Projekte in Kassel und arbeitet auch mit
der documenta zusammen. Was und wo er studiert haben möge ist mir ehrlich gesagt
scheißegal, aber er hat Graffiti-Background. Außerdem hat er meine Nummer von Funky
Phogelfutter und in Bergkamen war ich auch noch nie - Ich sage zu.
Mein Zug rollt in Dortmund ein – eine der historischen Graffiti-Hochburgen Deutschlands.
Die Gerüche die sich in meiner Nase mischen, erinnern mich an meine Zeit als Train
Writer als Künstler noch zornig waren und die deutsche Bahn noch pünktlich.
Ausscheidungen von Maschine und Mensch fließen hier zusammen - Ich bin im Ruhrgebiet.
An meinem Hotel in unmittelbarer Bahnhofsnähe schlurfen Junkies vorbei. Vor dem Fenster
versperrt mir das Deutsche Fußballmuseum die Sicht auf die Gleise, auf denen ich
vorbeifahrende, besprühte Waggons vermute.
Am nächsten Morgen holt mich Dustin mit einem Auto ab, dessen Marke ich mir nicht
gemerkt habe. „Bergkamen hat keinen Bahnhof“ sagt er in den Rückspiegel schauend, die
Mütze trotz fehlender Kälte tief ins Gesicht gezogen.
In Dortmund gibt es viele professionelle Mural Arbeiten an denen wir scheinbar zufällig
vorbeifahren. Zwangsläufig mustere ich im vorübergehen auch die Tags im Stadtbild: COLE,
EMON, SHARK... letzterer scheint jedem Wandel scheinbar unbeeindruckt seit 40 Jahren
die dortigen Strassen zu dominieren
Wir reden über Graffiti und die Welt - er wirkt gar nicht so aufgeräumt, was ihn
sympathisch macht. Obwohl er aus der gleichen Kultur kommt wie ich, scheint er die
gesamte Sprachwelt des administrativen Kunst-Kulturbetriebs bereits verinnerlicht zu haben
– Nach zwei Zigaretten und einmal „Ausfahrt verpasst“, fahren wir in das Örtchen hinein.
Gespannt schaue ich aus dem halboffenen Fenster. Ein Haus reiht sich an das
Andere, dann noch ein Haus – Nix besonderes. Und auf einmal ächzt ein verblichenes Piece
auf einer Hauswand im Schritt Tempo an uns vorbei: FAKT! Nie gehört den Namen, but We
Salute You - wir sind jetzt in deiner Stadt.
Dustin hält mitten am Bergkamener Busbahnhof, als ob es so seine Richtigkeit hätte.
Zwischen ein paar Bäumen steht in großen beleuchteten Buchstaben RATHAUS auf einer
olivgrünen Hausfassade. Erst als er mich darauf hinweist, dass es sich hierbei um die erste
Arbeit handelt, fällt mir das Wortspiel auf: Rathaus - Arthaus im Schatten der Schrift. Als
Aussenstehender, ist es nicht auf den ersten Blick zu deuten ob es sich hierbei um eine
autorisierte Auftragsarbeit der Stadt handelt oder um eine mutige „Nacht und Nebel“ Aktion
eines Graffiti Writers im Selbstauftrag, allen juristischen Konsequenzen zum Trotz. Die
Ebenen verschwimmen – find ich gut. Dass das Leitmotiv gleich von einer international
anerkannten Graffiti Größe wie Can 2 realisiert wurde, der seit den 80ern zur ersten
Generation des Style Writings in Europa gehört, finde ich ungemein wichtig und ist ein klares
Bekenntnis zu den Protagonisten dieser Straßen Kultur.
Der Name des Festivals ist Programm. Selbsterklärend, spielt aber auch mit dem Image der
intellektuellen Untergrund Filmkunst jenseits des Mainstreams, also schon Graffiti, aber
irgendwas mit Arte und Kultur. Und seien wir mal ehrlich, nicht jede Stadtverwaltung ist so
offen und mutig ihr Wahrzeichen der Macht - das Rathaus, als Kulisse eines Kunstfestivals
zu überlassen. Und auch als ich die Menschen hinter den Schreibtischen kennenlerne,
erscheinen mir die Bergkamener soweit ich das als Tourist beurteilen kann, als zugänglich
und unkompliziert, trotz eigenen Yachthafens. Und selbst einen kleinen Leuchtturm gibt es in
diesem 50.000 Einwohner Ort, und hätten die Kuratoren ihn nicht vom ewigen Vagabunden
mit dem verwegenen Hut Jim Avignon bemalen lassen, wäre ich nachts noch selbst
vorbeigegangen und hätte das schnell erledigt – gern geschehen.
Wir fahren alle Werke ab, manche sind bereits fertig, andere noch im Entstehen.
Ich hatte bereits Fotos erhalten, sie aber nur halbherzig überflogen.
Nach 6 Stunden Zugfahrt analysiert man die Murals dann doch etwas gewissenhafter.
Ein Kunstwerk steht immer im Kontext zum Raum, in dem es sich befindet.
In Galerien und Museen arbeitet man oft mit einem neutralen leeren einfarbigen Raum,
einem White Cube oder so, nichts lenkt ab, Licht, Leinwand, alles fokussiert sich auf’s Werk.
Bei Graffiti Urban Art wird ein Eisenbahnwaggon oder eine Hauswand zur Leinwand
umfunktioniert und damit der öffentliche urbane Raum selbst zur Galerie deklariert.
Dort lenkt fast alles vom Bild ab. Geräusche, Fenster, vorbeifahrende Autos, fragende
Menschen, Bäume vor dem Bild – es ist die Kultur der lebendigen Kunst.
Bei Börek und Ayran lerne ich endlich auch Dustins Partner Stefan Gebhardt kennen und
auch manche der Künstler und Künstlerinnen treffe ich sogar vor Ort - einige Begegnungen
blieben mir besonders in Erinnerung, auch in Bezug auf ihre unterschiedlichen Werke, die
zeigen, wie vielfältig die Stile in diesem Genre sein können.
Wir treffen Gizem an der Jugendkunstschule. Ihre Motive wirken auf mich auf Anhieb sehr
feminin, selbst vor Blumen wird nicht Halt gemacht, die überraschend in Übergröße
bedrohlich-freundlich von der Hauswand ragen. Ich komme mir vor wie Gulliver auf Reisen in
Bergkamen im Land der Riesen. Als Gizem lächelnd von der Hebebühne steigt, fällt mir auf,
wie klein und zierlich sie ist. Sie hat weiße Airpods im Ohr, wir sprechen zwar kurz
miteinander, aber ich vergesse zu fragen, welche Musik sie gerade hört.
Daniel Arab hat seine Arbeit bereits beendet und hat Zeit sich mit mir zu unterhalten. Fast
schüchtern spricht er über seine deutsche Sozialisierung im Libanon und reicht mir
eigene Kalligraphie Aufkleber, die seitdem bei mir auf ihren Einsatz warten.
Seine Kunst wirkt wie Schrift, doch trägt keinerlei Textinformation, es ist reine Kalligraphie,
mit dem Potenzial, hierzulande Reizthema zu sein. Und bei aller "Exotik" sind die Farben
doch recht deutsch. taubenartiges schmutzigweiss auf mausgrauem Beton über dem
Marktplatz, auf dem türkische Gemüsehändler täglich bemüht lächeln. Die Verfärbung der
Säulen, die das Marktdach tragen, wirkt wie eine logische Wandlung, die die Zeit mit sich
bringt. Fast unvorstellbar, sich den Platz ohne sie noch vorzustellen und auch der Architekt
Professor Eckhard Gerber ist begeistert, was man seiner bewegten Rede entnehmen
konnte.
Gegenüber auf der anderen Strassenseite ist bereits die nächste Arbeit zu sehen.
Der spanische Künstler Miguel Peralta ist völlig in Details vertieft und
steht fast ebenso regungslos auf seiner Leiter, wie die Figuren seiner imposanten Werke, die
an traditionelle Wandmalerei erinnern. Sein realistisch gemaltes Familien-Motiv hätte auch
an einem evangelischen Gemeindehaus platziert sein können.
Ebenso von weit angereist sind der Typograf Appear Offline und der Writer Sarme One,
beide aus Zagreb, um erstmals ein Mural gemeinsam zu gestalten. Die Wand bei der Willy-
Brandt-Gesamtschule wirkt wie ein durcheinander geratenes dreifarbiges Comic. Überall
Energie, Buchstaben, Formen und Gesichter. Die rechteckigen Strukturen in der Wand
versuchen das Chaos zu strukturieren, während ich mit den beiden Künstlern bereits Pläne
schmiede für einen zukünftigen Graffiti Kroatien-Trip.
Ein Kuratoren-Team hat eine komplexen Aufgabenbereich. Neben den künstlerischen Konzepten im Vorfeld stehen auch unglaublich viele organisatorische Dinge an. Von der Umsetzung ganz zu schweigen, mit unvorgesehenen Komplikationen und Herausforderungen (wie z.b. dass Texte wie dieser hier pünktlich abgegeben werden).
Am Ende des Tages ist der Kurator auch so etwas wie eine Vermittlungsstelle zwischen den verschiedenen Welten - der Kunst und der Bürokratie, die noch nie gut zusammengearbeitet haben. Es braucht daher autarke Wirkungsfelder, die selbstverwaltet arbeiten können, dafür benötigt es auf Institutioneller Seite wiederum ein hohes Maß an Vertrauen zu den Machern und Protagonisten und Protagonistinnen, die sich zum grossen Teil selbst und informell ausgebildet haben und für ihre unkonventionellen Arbeitsweisen, die nicht immer in das mitteleuropäische Tradititionsdenken passen.
Kunst im öffentlichen Raum war sicher Teil aller Kulturen der Welt. Aber es waren die jugendlichen Graffiti Style Writers und die Hip Hop Bewegung, die die gesamte Stadt zu ihrer Galerie ernannten. Diese zwangsläufige Konfrontation mit ihrem Kunstverständnis, hat uns nicht nur neu für Farben und Formen sensibilisiert, sondern gar die Kunst kurzerhand befreit aus der Logik der Traditions- und Verwertungsgesellschaft der Galerien, Akademien und Museen. Dies geschah nicht nur mutig oder frech - sondern aus purer Verzweiflung der Notwendigkeit heraus. Von diesem Kampfgeist und Überlebensinstinkt sollte ruhig auch bei einem legalen Urban Art Kunstfestival zu spüren sein. Ein Mural muss nicht anecken oder gar Menschen erzürnen, aber es sollte dennoch irgendwie auffallen und Menschen zum Gespräch anregen, in keinem Fall sollte es den Betrachter kalt lassen. Die Graffiti und Hip Hop Szene hat sich ihren Raum genommen, den sie gebraucht hat, um zu existieren, nun ist es an der Zeit, dass Writer auch Augenhöhe erlangen in der Kunstwelt und nicht nur als Randnotiz derselben gesehen werden.
Etliche Street/Urban Art Festivals finden mittlerweile statt, ohne auch nur einen echten Street Writer im Line Up zu haben. Warum eigentlich? Hab ich nie verstanden.
Nochmal zum Mitschreiben: Diese Kunstform egal unter welchem Namen man es auch
verpackt, egal ob Phillys City Hitters, Pariser Pochoirs Pioniere, Polit-Punk Sprayer, New York Subway Artists oder Kalligraphische Stylewriter…diese Kunst kommt weder von Akademien noch aus den Galerien, sie kommt von der Strasse. Und ob Graffiti Kunst ist oder nicht? Who cares? Es bleibt gelebte Kultur ganzer Generationen.
Frederik Hahn
Kunst & Kultur
• Einführung und Erweiterung der Kunstrichtungen "Style Writing" und "Impact Impressionism" in Baden-Württemberg Anfang der 80er Jahre.
• Seitdem über 300 Arbeiten im öffentlichen Raum in Haiti, NYC, Israel und Europa, darunter der erste gesprühte Zug In Baden-Württemberg.
• Gründung der Heidelberger Ortsgruppe der (EGU) Euro Graffiti Union.
• Kollaborationen als Künstler und Kurator mit Zezao, Futura 2000, Kool Koor, Boris Hoppek, Loomit, Ben Eine, Mark Jenkins, Quik, Mode 2, Os Gemeos u.a.
• Kunstverein Heidelberg (1989/1997/2004), Von der Heydt Museum Wuppertal (2011), Metropolink Festival für Urbane Kunst Heidelberg (2015), ZKM Karlsruhe (2008), Arthaus Bergkamen (2023).
• Konzipierung und Durchführung von ca 30 Workshops mit Kindern und Jugendlichen in Kunst, Literatur, Tanz und Musik mit div Schulen, Vereinen, Institutionen, Kirchen und Stiftungen zum Thema Hip Hop, Graffiti, Rassismus und Empowerment.
• Über 2000 Konzerte & Shows in 20 Ländern (USA, Frankreich, Italien, Hong Kong) u.a. Jazz Festival Montreux, Zulu Nation Anniversary, Rock am Ring, Love Parade uvm.
Vita Auszug:
1987: Gründung der Band Advanced Chemistry, Heidelberg
1990: Mitarbeit beim MZEE Magazin
2019: Gründung des Hip Hop Archivs in Kooperation mit der Stadt Heidelberg
2020: Advisory Board Member "Global Hip Hop Journal" UK
2021: Advisory Board Member "Universal Hip Hop Museum" New York USA
2024: Gründung des freien Hip Hop Instituts, Heidelberg
Wissenschaftliche Lehraufträge:
2023 “Hip Hop in Heidelberg” Universität Heidelberg
2023 "Philosophie von Graffiti” Staatl. Kunstakademie Karlsruhe
Autor:
2024: Arthaus Essay: Was ist der Unterschied zwischen Kunst und Kultur?, D
2023: Die Linien des Lebens sind verschieden, Unistadt Tübingen, D
2023: Analysis of German 80s HipHop Record Releases Palgrave Macmillan, UK
2021: Monografie "Blauer Samt" Rotary-Head, Klotz Verlag, D
2020: "Annäherung an Hölderlin" Text Deutsche Literatur Archiv Marbach, D
2007: "25 Jahre Wild Style" Artikel Juice Mag, D
Patenschaften:
„Hip Hop Klasse” Ida-Ehre Schule Hamburg
„Schule ohne Rassismus” Hölderlin Gymnasium Heidelberg
Auszeichnungen:
2023 - WMCJLTV - Humanitarian Award of Excellence NYC, USA
2023 - Unesco - Heidelberger Hip Hop als deutsches immaterielles Kulturerbe
2023 - Appreciation Award Hip Hop Zoo Zürich, CH
2021 - “Richard-Benz-Medaille für Kunst und Wissenschaft” der Stadt Heidelberg
2021 - Contribution Award - The (Universal) Hip Hop Museum NYC, USA
2017 - Botschafter des Mannheimer Erbes der Weltkulturen dt. Unesco Kommission
2014 - “Lebenswerk National” Hip Hop.de
1995 - Grimme Preis "Geh zu Polizei" als Musik Produzent
1994 - Grimme Preis “Lost in Music” Doku als Protagonist